Wenn Javier Martínez, 24, in seinen modischen Turnschuhen und Jeans über die Flure der FC-Bayern-Zentrale schlendert, grüßen sie ihn in seiner Heimatsprache: ¡Hola! Die spanische Neuverpflichtung hat sich so problemlos wie wenige ausländische Profis zuvor in München integriert, nicht nur auf dem Rasen. Martínez trägt seinen Teil dazu bei, mehrmals pro Woche nimmt er Deutsch-Unterricht. Der ist fraglos komplizierter für ihn als der sportliche Alltag mit den Rekord-Bayern des Jahrgangs 2012/2013. 'Reflexiv, Dativ, der, die, das', berichtet er aus dem aktuellen Stundenplan und stöhnt: 'Alles sehr, sehr schwer.'
SZ: Senor Martínez, Sie tragen einen erstaunlichen Spitznamen: 'ElKaiser de Ayegui'. Kaiser - wer hat sich das ausgedacht?
Javier Martínez: Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich schnell rot werde, wenn ich das höre. Weil sich das ja auf Franz Beckenbauer bezieht, der nicht nur eine Legende des deutschen Fußballs ist, sondern in der ganzen Welt bewundert wird. Vielleicht der beste Abwehrspieler, den es je gab. Ich wäre wunschlos glücklich, wenn ich eines Tages halb so gut wäre wie er.
Sie stammen aus Ayegui. Aber weiß denn jeder Spanier, was ein Kaiser ist?
Nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, ich weiß es eigentlich auch nicht genau. Aber man kann sich natürlich denken, dass es etwas Gutes ist. So etwas Ähnliches wie ein König, vermute ich. Der Big Boss.
So könnte man es umschreiben. Im Übrigen weiß auch nicht jeder Deutsche, wo Ayegui liegt.
Das ist normal. Ayegui ist wirklich ein sehr kleines Dörfchen. Es liegt im Norden Spaniens, in Navarra. Es hat nur 1500 Einwohner. Trotzdem bin ich sehr stolz darauf. Ayegui ist meine Heimat.
Immerhin liegt der Ort am Jakobsweg.
Das ist sogar ein sehr wichtiger Wegabschnitt. Es gibt dort ein berühmtes Kloster, das früher einmal ein Krankenhaus war und davor eine Schule für Pilger. Das Beste in Ayegui ist aber der Brunnen.
Der Brunnen?
Normalerweise kommt aus Brunnen Wasser raus, oder?
Richtig.
Sehen Sie, aus unserem Brunnen kommt aber Rotwein raus.
Sie machen Witze.
Ich schwöre, das ist die Wahrheit. Der Brunnen ist an eine Bodega angeschlossen, denn wir haben guten Wein in Navarra.
Das haben andere Regionen auch. Trotzdem trinken die Leute ihren Wein nicht aus dem Brunnen.
Es ist für die Pilger, um ihnen Kraft zu geben für den weiten Weg nach Santiago. In letzter Zeit mussten sie den Brunnen aber immer häufiger abdecken. Viele Wanderer haben einfach zu viel Kraft getankt.
Sind Sie schon nach Santiago gepilgert?
Ich würde das gerne mal machen, weil ich sehr katholisch bin. Das Problem ist: Ich habe keine Zeit.
In Ayegui soll es auch ein Stadion geben, das nach Ihnen benannt ist.
Das stimmt. Nachdem wir 2010 in Südafrika Weltmeister geworden waren, hat der Bürgermeister beschlossen, mir diese Ehre zu erweisen.
Wann haben Sie zuletzt im Javi- Martínez-Stadion gespielt?
An Weihnachten. Da trainiere ich immer mit unserem Dorfklub, um über die Feiertage in Form zu bleiben. Wobei man sagen muss, dass es eigentlich kein Stadion ist. Eher ein Sportplatz.
Sie können trotzdem stolz sein. In Deutschland hat nicht einmal der Original-Kaiser ein eigenes Stadion.
Ach, wirklich nicht? Beckenbauer hätte das aber allemal verdient, finde ich.
Haben Sie ihn hier schon mal getroffen?
Noch nicht. Aber wenn ich ihn treffe, frage ich, ob ich ein Foto mit ihm machen kann.
Die Region Navarra und ihre Hauptstadt Pamplona sind dafür berühmt, dass sich dort die Menschen freiwillig von wilden Stieren durch die Straßen jagen lassen.
Ja, Sanfermin, großartig! Früher habe ich da immer selbst mitgemacht. Heute geht das nicht mehr. Wir Navarros lieben Traditionen, und unser Brauchtum ist es nun einmal, vor Stieren und Kühen wegzurennen. Ich kann das nur empfehlen. Das ist Adrenalin pur.
Es sieht vor allem gefährlich aus.
Hombre, wenn du langsam bist, ist es gefährlich. Wenn du schnell bist, ist es ungefährlich.
Gehörten Sie immer zu den Flinken?
Zum Glück, ja. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich sehr früh mit dem Training begonnen habe: Ich musste öfter mal vor meiner Mutter wegrennen. Ich war kein sehr artiger Junge.
Was haben Sie angestellt?
Dies und das. Ich habe die Schulbücher meiner Brüder im Waschbecken versenkt. Oder die Blumentöpfe meiner Mutter mit dem Fußball zertrümmert. Na ja, und dann hat mich meine Mutter regelmäßig mit einem Hausschuh oder einer Bratpfanne verfolgt. Aber sie hat natürlich nur gedroht.
Sie berichten die ganze Zeit von Ihrer Kindheit in Navarra. Bislang hieß es hierzulande immer, Javi Martínez sei Baske.
Für manche Leute ist Navarra Navarra. Und für andere ist Navarra 'Euskal Herria' - Baskenland. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir Fußballer müssen unsere Worte bei diesem politischen Thema vorsichtig wählen. Da gibt es viele Fallstricke.
Sie haben sechs Jahre bei Athletic Bilbao gespielt. Dort werden traditionell nur Basken eingestellt.
Das stimmt, um dort spielen zu dürfen, muss man ein Baske aus Vizcaya, Alava, Guipuzcoa oder Navarra sein.
Athletic hat Sie 2006 aus der dritten Liga verpflichtet, für sechs Millionen Euro. Sie waren da erst 17 Jahre alt. Da spielt man gegen eine große Erwartung an.
Ich habe versucht, gar nicht an das Geld zu denken. Ich habe gelernt, den Druck in Motivation zu verwandeln.
Als Sie im Sommer für 40 Millionen zum FC Bayern kamen, konnten Sie das gleich noch einmal gebrauchen.
Stimmt, da gibt es eine Parallele. In beiden Fällen musste ich zeigen, dass es kein Fehler war, mir Vertrauen entgegenzubringen. Dass das viele Geld gut angelegt ist.
Wie kam die berühmte 40-Millionen-Klausel in Ihren Vertrag hinein?
Hier in Deutschland ist das offenbar nicht üblich. Ich habe bei Bayern jedenfalls keine Klausel. In Spanien ist das anders. Da hat jeder Vertrag eine Ausstiegsklausel. Wenn jemand kommt und die Summe auf den Tisch legt, gibt es keine Möglichkeit, den Spieler am Wechsel zu hindern. Die Details können die Klubs dann verhandeln.
In Ihrem Fall hat sich Athletic aber geweigert, irgendetwas zu verhandeln.
Athletic ist ein Klub, der nicht verhandelt. Da gibt es keine Rabatte. Das machen sie aber bei allen Spielern. Mein Fall war, abgesehen von der Summe, nichts Besonderes.
Ist es aber nicht komisch, dass Sie nach sechs Jahren bei Bilbao am Ende wie ein Vaterlandsverräter behandelt wurden?
Für jemanden, der noch nie bei Athletic war, ist es schwer zu verstehen, was diesen Klub ausmacht. Er ist in jeder Hinsicht anders und außergewöhnlich. Athletic ist wie eine Religion.
Stimmt es, dass Sie über den Zaun des Vereinsgeländes geklettert sind, um Ihren Spind auszuräumen?
Es war sehr schmerzhaft für mich, wie das am Ende abgelaufen ist. Aber alles, was ich dazu sagen kann, würde weitere Polemiken auslösen. Deshalb ist es besser, nichts mehr zu sagen. Die Leute, die mich gut kennen, wissen, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen.
Wieso wählten Sie den FC Bayern?
Für mich war klar: Wenn ich Bilbao verlasse, kann ich nur zu einem der besten Vereine gehen, die es gibt. Es gab auch Interesse von Real Madrid, vom FC Barcelona und dem ein oder anderen Team aus England. Sie haben mir zum Teil höher dotierte Verträge angeboten. Aber ab dem Moment, als mir mein Berater sagte, Bayern wolle mich holen, sagte ich zum ihm: Mach es! Für mich ist das der beste Klub, den es gibt.
Jupp Heynckes war mal Trainer in Bilbao. War er involviert in den Transfer?
Er hat mich angerufen und gesagt, dass es ihm sehr gefalle, wie ich spiele. Er hat mir aber vor allem nach meiner Ankunft in München geholfen. Er versteht, wie es ist, ein neues Leben im Ausland anzufangen. Er hat ja am Anfang auch kein Spanisch gesprochen, als er nach Bilbao kam.
Sprechen Sie jetzt mit ihm spanisch?
Wir versuchen, es zu vermeiden. Ich will möglichst schnell Deutsch lernen. Der Trainer spricht in der Kabine immer auf Deutsch. Und die Videoanalysen sind auch auf Deutsch. Das geht jeden Tag besser bei mir. Inzwischen verstehe ich 60 bis 70Prozent von dem, was gesagt wird.
Sie hatten eine schwierige Eingewöhnungsphase - für einen 40-Millionen-Mann saßen Sie recht häufig draußen.
Das war aber so abgesprochen. Ich hatte in der vergangen Saison über 70 Pflichtspiele gemacht. Dann kamen noch die Europameisterschaft und Olympia in London. Ich hatte praktisch keinen einzigen Urlaubstag, bevor ich nach München kam. Deshalb haben wir gesagt, wir fangen hier langsam an. Und das Ergebnis ist, dass ich mich jetzt, wo es um die Titel geht, deutlich besser fühle als am Anfang der Saison.
Es gibt immer noch viele Zuschauer, die Schwierigkeiten haben, Ihre Rolle im Spiel der Bayern zu verstehen und sich fragen: weshalb 40 Millionen? Liegt das daran, dass Sie häufig da sind, wo die Kameras gerade nicht hinschauen?
Meine Arbeit ist, für das Gleichgewicht zu sorgen. Ich soll Angriff und Verteidigung ins rechte Verhältnis bringen. Wir sind ein sehr offensiv ausgerichtetes Team mit Franck, Thomas, Toni und Mandschu oder Mario (gemeint sind die Mitspieler Ribéry, Müller, Kroos, Mandzukic und Gomez; d.Red.). Deshalb lauern die meisten Gegner auf Konter. Sie warten nur darauf, dass wir in einem Moment alle dem Reiz der Offensive erliegen, dass wir alle vorne sind, und dann schlagen sie zu. Meine Hauptaufgabe ist, genau das zu verhindern. Ich bin da, um den anderen zu helfen.
Wie kommunizieren Sie mit Bastian Schweinsteiger, Ihrem Partner im defensiven Mittelfeld?
Manchmal deutsch, manchmal bairisch. Meistens englisch.
Was sagt er zu Ihnen auf Bairisch?
Das beginnt schon beim Namen: Er nennt mich Xaver.
Wie gefällt dem Xaver denn München?
Als ich hier ankam, dachte ich, oweh, wie groß ist das denn?! Dann habe ich aber schnell gemerkt, dass es weniger Unterschiede zwischen Bayern und Navarra gibt, als ich erwartet hatte. Die Leute sind warmherzig und sprechen viel, wobei Thomas Müller natürlich am meisten spricht. Das Einzige, woran ich mich noch nicht gewöhnt habe, sind die vielen Ampeln.
Und wie haben Sie sich an die Bundesliga gewöhnt? Ist es nicht fast ein wenig langweilig, bei so wenig Gegenwehr?
Nein, weil jedes Spiel schwierig zu gewinnen ist.
Aber so ein Champions-League-Spiel wie diesen Mittwoch gegen den FC Arsenal macht trotzdem mehr Spaß, oder?
Ja, die Champions-League ist für jeden Spieler etwas Besonderes. Hier beim FCBayern zumal, weil der Klub sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gewonnen hat.
Sie wurden verpflichtet, um das zu ändern. Erinnern Sie sich noch an den letzten Münchner Titelgewinn 2001?
Bayern gegen Valencia! Da war ich zwölf Jahre alt. Aber ich habe das Spiel natürlich im Fernsehen angeschaut. Im Tor stand Oliver Kahn. Ich erinnere mich auch an Kuffour, Lizarazu und Salihamidzic. Auf meiner Position spielte Effenberg.
Ein sogenannter 'Aggressive Leader', einer, der auch mal foulte, um ein Zeichen zu setzen, wie später auch Mark van Bommel. Als Sie neulich im Pokal den Dortmunder Lewandowski von den Beinen holten, hatte man den Eindruck, Sie wollten diese Tradition wiederbeleben.
Im Fall von Lewandowski war ich wirklich davon überzeugt, dass ich den Ball erreiche, das war ganz bestimmt keine Absicht. Grundsätzlich betrachte ich mich nicht als aggressiv, aber als kämpferisch.
Der Effenberg-Stil ist zumindest nicht gerade der typische Stil eines spanischen Mittelfeldspielers.
Effenberg war einer, der wahnsinnig viele Kilometer gemacht hat. Xavi und Iniesta sind definitiv nicht so. Busquets schon eher. Kann schon sein, dass ich von den derzeitigen Nationalspielern derjenige bin, der Effenberg am meisten ähnelt. Ich bin der deutscheste Spanier.
Wann haben Sie zuletzt Rot gesehen?
Im vorigen Jahr, da habe ich sogar zwei rote Karten bekommen. Davor keine einzige.
Die Zukunft des FC Bayern sieht eher rosarot aus. Wenn man in diesem Jahr drei Titel holt, was ja durchaus möglich ist - was soll Heynckes" Nachfolger Pep Guardiola eigentlich noch verbessern?
Erstens haben wir bislang noch keinen einzigen Titel. Zweitens gehe ich davon aus, dass Pep uns helfen wird. Drittens bin ich mir sicher, dass wir einen Fehler machen, wenn wir jetzt ans nächste Jahr denken.
Waren die Spanier auch überrascht wie die Deutschen, dass es den Bayern gelang, so einen Trainer zu verpflichten?
Alle waren überrascht. Und die Spanier erst recht. Ich weiß das, weil fast ganz Spanien bei mir angerufen hat, als die Nachricht herauskam. Ich hatte an diesem Tag Besuch von einem alten Freund aus Ayegui. Er hat auch beim Training an der Säbener Straße zugeschaut. Als er gegangen ist, haben einige Leute gehört, dass ich mich von ihm auf Spanisch verabschiedete, und dann sind ihm 50 Journalisten und Kameramänner hinterhergerannt. Das war sehr lustig - weil alle dachten, er sei der Berater von Guardiola!
Es kommen immer mehr spanische Sport-Größen nach Deutschland. Erst Raúl, dann Martínez und nun Guardiola, der Handballer Iker Romero spielt in Berlin. Können Sie das erklären?
Die Bundesliga boomt. Und auch in Spanien wird registriert, dass hier die Stadien immer voll sind. Für einen Spieler ist das viel wichtiger, als viele Leute vielleicht denken. Raúl war so etwas wie ein Pionier. Natürlich habe ich mit ihm gesprochen, bevor ich mich für die Bundesliga entschied.
Was hat er Ihnen erzählt?
Er hat nicht erzählt - er hat geschwärmt. Ich fragte ihn, wo er leben wolle, wenn seine Karriere beendet ist. Ich meinte natürlich: wo in Spanien? Raúl sagte aber, seine Kinder wollten unbedingt zurück nach Düsseldorf.
Wie könnte Ihr Leben nach der Karriere aussehen?
Weiß noch nicht. Vielleicht werde ich ja Koch oder Kellner. Meine Eltern haben bei uns zu Hause ein Restaurant. Es heißt 'Durban'. Natürlich sind alle Leser Ihrer Zeitung sehr herzlich eingeladen. Bloß nicht alle auf einmal. Es ist nicht so groß.
Wieso Durban?
Das ist die Stadt, in der ich den einzigen Einsatz hatte bei der WM in Südafrika.
Sie spielten dort nur wenige Minuten. Fühlen Sie sich trotzdem wie ein echter Weltmeister 2010?
Selbstverständlich. Es gibt keine Mannschaft, in der es schwieriger ist, einen Stammplatz zu bekommen als Spaniens Nationalelf. Wen soll der Trainer denn draußen lassen: Busquets? Xabi Alonso? Xavi? Klar würde ich gerne mehr spielen, aber ich werde niemals das Gesicht verziehen, wenn ich bei diesem Team auf der Bank sitze. Denn dann ist es meine Aufgabe, denen zu helfen, die spielen.
Sie könnten den Spaniern bei der WM 2014 ja auch als Spion helfen. Immerhin spielen Sie jetzt hier in München mit der halben DFB-Stammelf zusammen.
Das deutsche Nationalteam bereitet mir sehr viel Angst. Da gibt es unglaubliche Spieler: Toni Kroos, Marco Reus, Götze, Basti, Thomas Müller, Manu Neuer. Und dazu kommt, dass sie fast alle jung sind. In zwei bis drei Jahren geht es hier richtig ab. Dann wird es schwer für Spanien.